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  • AutorenbildDipl. Psych. Martina Brancalion

Entwicklungstrauma – die unterschätzte Störung: Erkenntnisse und praktische Heilungsansätze


Kind schlägt Hände vor die Augen weil Mutter mit ihm schimpft

Dieser Blogbeitrag thematisiert die häufig unterschätzten Folgen von Entwicklungs- und Bindungstraumata, die ich hier als synonyme Begriffe verwende, da ihre Entstehung und Behandlung ähnlich sind. Ich beschreibe unter welchen Umständen ein solches Trauma entsteht, wie es sich im Alltag äußert und aktuelle Ansätze aus der Traumaforschung, mit denen es behandelt werden kann. Zuletzt widme ich mich einem anonymisierten Fallbeispiel aus meiner Praxis, das die möglichen Erfolge durch traumasensible Methode gut veranschaulicht.


Zwei unterschiedliche Arten von Trauma existieren


Die meisten Menschen haben schon mal von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) gehört oder haben ein intuitives Gefühl dafür, wie sich akute Belastungsreaktionen nach traumatischen Ereignissen, wie Unfällen oder anderen unvorhersehbaren Ereignissen, äußern. Diese als Trauma Typ 1 bezeichnete Störung ist gut erforscht, und es existieren etablierte Behandlungsmethoden und Handbücher für ihre Behandlung. Während in den 1990er-Jahren vor allem die klassische Verhaltenstherapie als Behandlungsansatz vorherrschte, verwenden wir heute trauma- und emotionsbezogene Ansätze wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), EFT (Emotional Freedom Technique), PITT (Psychoimaginative Traumatherapie) und narrative Verfahren.

In Fällen von langanhaltenden emotionalen Verletzungen, wo Entwicklungs- und Bindungstraumata ihren Ursprung haben und die als Trauma Typ 2 bezeichnet werden, haben sich neben den oben genannten Methoden auch gestaltungs- und körperorientierte Interventionen bewährt, um die im Körper gehaltene Traumaenergie sanft aufzulösen.


Insbesondere Ansätze des Psychotraumatologen Peter Levine, wie z.B. Somatic Experiencing und körperzentrierter Therapie, sowie des auf Entwicklungstraumata spezialisierten Psychologen Laurence Heller und sein neuroaffektives Beziehungsmodell NARM, haben dazu beigetragen, schonendere Herangehensweisen und Gesprächstechniken bei der Behandlung von Menschen mit dieser Art von Trauma zu etablieren.



Was versteht man unter Bindungs- und Entwicklungstrauma?

Im Folgenden wird der Begriff "Entwicklungstrauma" synonym zum "Bindungstrauma" verwendet, da sie in ihrer Entstehung und Behandlung ähnlich sind. Ein Entwicklungstrauma ist eine schwerwiegende seelische Verletzung, die durch langanhaltende Unterdrückung, empfundene Hilflosigkeit und Gewalt entsteht. Diese emotionalen Wunden, die Menschen im Rahmen ihrer Entwicklung zum Erwachsensein erleben, haben ihren Ursprung häufig in der frühen Kindheit. Insbesondere die ersten drei Lebensjahre sind prägend. Sie treten auf, wenn ein Kind…:

  • in einem autoritären, strengen, chaotischen oder emotional kalten Elternhaus aufwächst.

  • Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt.

  • direkte oder subtile Ablehnung oder Demütigung erfährt.

  • frühzeitig zu große Verantwortung übernehmen muss, beispielsweise die Aufsicht über jüngere Geschwister.

  • Eltern hat, die psychische Probleme wie Depressionen oder Persönlichkeitsstörungen haben.

  • Eltern hat, die Suchtprobleme mit Alkohol, Drogen oder Glücksspiel haben.


Dies sind nur einige der Hauptursachen. Es ist wichtig zu betonen, dass auch weniger schwerwiegende Ereignisse zu Traumatisierungen führen können. Hierzu gehören Trennungen, Jobwechsel, Umzüge, wechselnde Bezugspersonen oder die Geburt eines (bevorzugten) Geschwisterkindes. Traumatisch wird es, wenn die betroffene Person die Ereignisse als bedrohlich empfindet und keine Möglichkeit zur Flucht oder Abwehrhandlung hat. So entsteht die Überzeugung, nicht richtig, nicht gut genug oder nicht gewollt zu sein.

Da Kinder noch nicht über ausreichende kognitive Verarbeitungsmechanismen verfügen und sich zudem selbst die Schuld an den Ereignissen geben, befinden sie sich in einem Teufelskreis. Zwar hat der Organismus die Fähigkeit, schmerzhafte Emotionen zu unterdrücken, die Energie, die er jedoch in solchen Situationen (biologisch gesehen sind dies Gefahrenmomente) bereits mobilisieren musste, um den Schmerz zu überleben, vor dem er weder flüchten noch gegen ihn kämpfen konnte, bleibt im Körper unterdrückt stecken.

Diese Art von Entwicklungstrauma in jungen Jahren führt zu einer inadäquaten Verarbeitung der seelischen Wunden. Hierdurch verbleiben dissoziierte (abgekapselte) Elemente im Unterbewusstsein und auf der Körperebene.



Was bedeutet das im realen Leben?


In meiner Praxis höre ich von Betroffenen fast immer, dass ihre Meinung als Kind nicht ernst genommen wurde und dass ihre Bedürfnisse nicht gezählt hätten. Sie hätten „einfach“ nur funktionieren müssen, am besten ohne Ansprüche, Bedürfnisse und Wünsche zu äußern oder Eigenheiten zu haben, die den Erwachsenen evtl. zusätzliche Arbeit verursacht hätten.

Die betroffenen Personen empfinden Angst, Unsicherheit, Depressionen, diffuse Traurigkeit oder überwältigende Emotionen. Sie entwickeln Phobien und fühlen sich isoliert. Auch damit verbundene psychosomatische Probleme gehören in das Erkrankungsspektrum.

Von den Betroffenen wurde/wird ihr Leben als Kampf wahrgenommen. Erinnerungen an „damals“ verursachen seelische Schmerzen. Die nicht abgeschlossene Verarbeitung dieser seelischen Wunden, bzw. die dissoziierten Elemente im Unterbewusstsein und auf der Körperebene, „rumoren“ in der Seele der Patienten.


Erinnerungen können durch Geräusche, Gedanken oder Ereignisse in der Gegenwart ausgelöst (getriggert) werden. Das Vermeiden solcher Trigger wird zunehmend mühevoll, was sich in der Neigung zu depressiven Episoden und Rückzug zeigt. In der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter gibt es oft Phasen der Besserung. Ich führe dies auf Ablenkung durch Partnerwahl, Berufswahl, Heirat etc. zurück. Sobald diese Lebensphasen abgeschlossen oder nicht mehr ablenkend genug sind, tritt in meiner Erfahrung das Trauma zurück in den Fokus.



Wie behandele ich Entwicklungstrauma in meiner Praxis?


Mein Ansatz bei Patienten mit entwicklungstraumatischen Hintergründen basiert auf einem Stufenschema. Dabei setze ich die eingangs erwähnte Emotional Freedom Technique (EFT) sowie körperorientierte, lösungsorientierte und gesprächstherapeutische Werkzeuge ein. Das Stufenschema ist nicht statisch zu betrachten und wird zeitlich individuell an den Patienten angepasst.


Die ersten Begegnungen dienen dem Vertrauensaufbau und der Beziehungsgestaltung. Ziel ist es, dem Patienten ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und das Hyperarousal (die Übererregung) zu reduzieren. Ich nutze dabei Methoden, die „erden“, z.B. durch VAKOG-Fragen (die alle Sinne einbeziehen: visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch, gustatorisch), der Arbeit mit dem „sicheren Ort“ oder andere Wahrnehmungsübungen. Ich wiederhole immer wieder, „dass es jetzt vorbei ist und der Patient in Sicherheit ist.“ Durch eine ausreichende Stabilisierung werden Retraumatisierungen verhindert.


Je nach Schweregrad, kann der Patient durch die sog. Bildschirmtechnik in die Vergangenheit geführt werden. Ich benutze hier zirkuläre Fragen oder Dialoge nach der eingangs erwähnten NARM-Technik von Laurence Heller bei ständiger Beobachtung der Körpersprache. Hier spiegele ich dem Patienten Auffälligkeiten, z.B. „Ihre Hände sind angespannt, wenn Sie über Ihre Mutter sprechen“, da Menschen mit entwicklungstraumatischen Biografien oft verlernen mussten, wie sich ihr Körper anfühlt, und was er ihnen sagen will.


In dieser Phase arbeite ich immer auch informativ (psychoedukativ), in dem ich dem Patienten viel über Trauma, Traumafolgen und Traumareaktionen im Körper erkläre – immer mit dem Ziel der Traumaintegration und Traumaheilung vor Augen. Meistens sind Patienten erleichtert, endlich eine Begründung für ihre Gefühle zu haben.


Um den Prozess der Traumareintegration und -verarbeitung zu unterstützen, ist das Üben von Bewältigungsstrategien und Aufbauen von Ressourcen sinnvoll. Essenziell ist auch die Wiederherstellung eigener Grenzen, da Menschen mit entwicklungstraumatischen Hintergründen oft erst ihre Grenzen (neu) entdecken müssen und Unterstützung brauchen, ihre eigenen Grenzen aktiv wahren zu dürfen. Mentale Achtsamkeitsübungen sowie körperliche Anspannungs- und Entspannungsübungen (Yoga kann hier genauso gut sein wie Krafttraining) sind ebenso hilfreich, wie positive Affirmationen, die ein gesundes Selbstwertgefühl stärken.


In meiner Erfahrung gibt es immer wieder Menschen, die sich scheuen, in psychologische Praxen zu gehen, aus Angst, sie müssten sich mit schmerzhaften Emotionen, Bildern oder Situationen aus der Vergangenheit im Detail auseinandersetzen. Sie befürchten vom begleitenden Psychologen womöglich nicht genügend „gehalten“ zu werden und vermuten eine völlige Überschwemmung mit alten Gefühlen. Es ist mir wichtig an dieser Stelle zu erklären, dass diese Angst berechtigt ist und dieser Widerstand ernst genommen werden muss – es aber für die Traumaheilung nicht zwingend notwendig ist, detaillierte Situationen zu konfrontieren. Das Auseinandersetzen mit der Geschichte im Allgemeinen ist anstrengend genug, der Erfolg nach einer Sitzung jedoch spürbar.


Verschwommenes Bild eines jungen Mädchens unter Bettdecke

Ein anonymisiertes Fallbeispiel aus meiner Praxis: Erfolg mit traumasensiblem Ansatz


Das folgende anonymisierte Beispiel wurde mit Erlaubnis der Patientin verfasst:


Eine verheiratete Patientin mit kleinen Kindern in einem stabilen sozialen Umfeld kam aufgrund diffuser Angst, Panikattacken und sozialer Unsicherheit zum Erstgespräch. Sie wirkte zu Beginn sehr selbstbewusst, die Körpersprache spiegelte dies jedoch nicht wider. Sie wirkte verletzlich und unsicher in meiner Gegenwart. Die Frau beschrieb sich dennoch selbst als Powerfrau.


Neben ihren diffusen Ängsten, u.a. Versagensängste, wies sie einen leichten Konzentrationsmangel und starke Insuffizienzgefühle auf. Schon bald konnte die Frage nach Misshandlungen in der Kindheit gestellt werden. Nicht nur gab es einen cholerischen Vater, der sie verprügelt hatte, sondern auch einen langen sexuellen Missbrauch im Bekanntenkreis. Ihre Mutter war früh verstorben und konnte sie nicht schützen - ihre überforderte Familie blieb untätig.


In diesem Fall ließ sich eine Trauma Typ 2 Diagnose nach mehrjähriger Misshandlung und Vergewaltigung leicht stellen. Die Patientin spürte eine Dissoziation von Angst, Scham und Ekel, Schuldgefühle (Misshandelte haben fast immer Schuldgefühle, weil sich die kindliche Schuld verfestigt hat), Erwartungsangst, Insuffizienz, sozialen Rückzug und ein geringes Selbstwertgefühl.



Scham- und Schuldgefühle auflösen durch das Aufdecken von Zusammenhängen


Ich begann ihr die Zusammenhänge ihrer Symptome zu erklären. Die Tatsache, dass ihr innerer Rückzug damals und die anfallsartigen Ängste heute zusammenhängen, brachte erste Erleichterung und Erkenntnisse. Wir sprachen viel über Schuldgefühle und wie sie mir später rückmeldete, war es für sie unglaublich wichtig, dass endlich jemand aussprach, „dass sie nicht schuld gewesen sei“. Ich verdeutlichte ihr, dass ihre Schuldgefühle, die sie noch immer plagten, die Schlussfolgerung eines kleinen Mädchens seien. Jetzt, als erwachsene Frau, brauche sie diese Schuldgefühle nicht mehr und könne sich jederzeit wehren, was ihr große Sicherheit gab.


In diesem Zusammenhang kann ich nicht deutlich genug die Wichtigkeit von Psychoedukation betonen: Die Patienten sind verunsichert und „in ihrer Welt gefangen“, wodurch Zusammenhänge nicht gesehen werden. Gerade durch diese ersten Gespräche, in denen diese Zusammenhänge aufgedeckt werden, bildet sich ein gutes Arbeitsfundament.



Zerstörte Grenzen neu aufbauen durch körperorientiertes Rollenspiel


Wie bereits erläutert, haben Menschen mit Entwicklungstraumata Probleme klare Grenzen zu ziehen. Ich ließ die Patientin auf dem Boden mit Seilen einen Schutz-Grenzraum ziehen – ihren persönlichen „Safespace“. Die Patientin sollte ihre Gefühle beschreiben und konnte mich proaktiv stoppen, wenn ich mich ihrem Schutzraum langsam nährte oder probierte sie am Arm zu berühren. Diese Art von körperorientiertem Rollenspiel bewirkte Erleichterung und beginnende Selbstregulierung. Man sah es ihr an, wie erleichtert sie war, dass die Kontrolle über ihren körperlichen Grenzraum im Vergleich zu damals akzeptiert wurde. Dies stärkte auch ihr Selbstvertrauen.



Die Emotional-Freedom-Technik: Negative Gefühle „wegklopfen“


Zur Verarbeitung ihrer Angst und Hilflosigkeit setzte ich die EFT-Klopftherapie ein, in der ein Patient bestimmte Meridianpunkte am Körper „abklopft“, um so negative Emotionen sukzessive zu lindern oder aufzulösen. Pro Sitzung kann immer nur ein Gefühl oder Gedanke bearbeitet werden, da es für den Betroffenen sehr anstrengend ist.


Ich bat die Patientin, sich in eine passende Situation von früher hineinzuversetzen, ihre Körperwahrnehmungen zu beschreiben und die Intensität ihrer Gefühle von 0 bis 10 zu skalieren. Bei ihr lagen diese meist zwischen 8 und 10, verbunden mit Unwohlsein, Zittern, Brustdruck, Tachykardie und Weinen. Bei der höchsten Intensität begann der typische Klopfdurchlauf. Der Reihe nach bearbeiteten wir ihre Gefühle von Angst, Wut, Trauer und Ekel. Wurde ein bereits bearbeitetes Gefühl beim nächsten Termin wieder auf 4 bis 6 skaliert, so wurde es erneut mittels EFT bearbeitet.



Ein optimistischer Blick in die Zukunft


Die Patientin wurde, dank dieser Kombination aus traumasensiblen Ansätzen, zunehmend fröhlicher und blickte optimistischer auf die Zukunft. Sie begann wieder damit Sport zu treiben und entwickelte neue Beziehungsstrategien. Die spürbare Änderung in ihrem Auftreten und die Öffnung nach außen wurden von mir durch echte Freude und authentisches, positives Feedback gewürdigt. Nach ca. 10 Sitzungen waren ihre Ängste nicht mehr ganz so bedrohlich, ihre Schuldgefühle nicht mehr ganz so schwer und ihr Ekel nicht mehr ganz so intensiv.


Obwohl dies schon einen ersten Erfolg darstellte, bestand natürlich immer noch die Möglichkeit, dass noch weitere Verdrängungen in ihr schlummerten. Hierfür ließ ich sie ihre Vergangenheit immer wieder beschreiben, da es wichtig ist, dass traumatisierte Menschen über ihre Vergangenheit berichten können, ohne von Emotionen überflutet zu werden, kleine Körperreaktionen aushalten können und ihre Geschichte zwar als unangenehm, aber als vergangenen Teil, wahrnehmen.


Nach weiteren fünf Sitzungen kam die Patientin sichtbar aufrechter in meine Praxis und erzählte mit deutlich mehr Tonalität von ihren Alltagserfolgen. Ihr Trauma war so weit verarbeitet, dass sie darüber reden konnte, selbstbewusster auftrat und ihre Ängste auf ein aushaltbares Maß reduziert waren. Die Affirmation, dass niemand perfekt sein muss, jeder Fehler haben darf und jeder ein Recht auf eine eigene Meinung hat, gaben ihr Gelassenheit und Sicherheit. Nach ca. 20 Sitzungen konnten wir ihre Behandlung erfolgreich beenden: Ihre Emotionsüberflutungen waren verschwunden, Ängste und Schuldgefühle minimiert und ihr Selbstvertrauen gestärkt.


 

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